stolz sein

Vor einigen Monaten mußte ich für die Traumatherapie eine Hausaufgabe machen, um die ich ewig gerungen habe. Die Aufgabe war, eine Liste mit den Dingen anzulegen, die ich in meinem Leben erreicht habe. Als meine Traumafrau mir die Aufgabe stellte, habe ich sie erstmal verwirrt angeguckt. Ich hatte ja nichts erreicht. Alles, was ich im Leben geschafft habe, hatte ich ja entweder anderen Leuten zu verdanken oder es war mir ungerechtfertigterweise irgendwie zugefallen - so habe ich es zumindest betrachtet.

Wir haben diskutiert. 

"Sie haben es doch auf ein Spezialgymnasium geschafft", sagte sie.

"Aber ich kann doch nichts dafür, daß ich musikalisch geboren wurde", sagte ich. "Das ist wie groß sein oder rothaarig, das ist mir einfach passiert."

"Aber Sie mußten doch etwas aus Ihrem Talent machen - Sie haben gearbeitet und geübt, um da hinzukommen."

"Aber eigentlich bin ich nur aus der Schule weggelaufen, in der ich gemobbt wurde."

"Sie haben es also geschafft, sich aus einer unangenehmen Situation zu befreien?"

Hmm. Mir etwas Erreichtes selbst anzurechnen war sehr ungewohnt und fiel mir schwer. Und dann passierte ein paar Wochen später etwas: Jemand, der mir nahe steht, war unnötig ausgesprochen unhöflich zu mir. Meine normale Verhaltensweise wäre gewesen, es runterzuschlucken und mir einzureden, ich hätte es nicht besser verdient. Aus Angst, ich würde die Nähe und gute Beziehung zu dieser Person verlieren, wenn ich Grenzen setze. Aber ich lerne, Grenzen zu setzen, und auch darauf bin ich wirklich stolz. Also habe ich ihn damit konfrontiert und erklärt, was ich daran doof fand und ich wie ich es in Zukunft haben möchte - und tatsächlich hat er mich verstanden, sich entschuldigt und das nicht wieder getan.

Ich bin in dieser Situation nicht einmal besonders stolz darauf, die Konfrontation gewagt zu haben, sondern besonders stolz bin ich, daß mir überhaupt klargeworden ist, daß ich einen Mindeststandard im Umgang mit anderen Menschen haben darf und will und den auch einfordern kann.

(Es klingt hier so geschrieben schon recht peinlich, nicht wahr? Normale Leute lernen sowas wahrscheinlich beim Erwachsenwerden und können das dann mit 25 oder so. Aber mein Schiff hatte so viele Lecks, daß ich vor lauter Havarien nie zum eigentlichen Segeln gekommen bin.)

Und dann habe ich etwas Politisches erreicht: Am Rathaus Alfeld wurde zum ersten Mal jemals eine Regenbogenfahne gehisst. 

In meiner Funktion als Sprecher der Grünen meines Ortsverbands, als Mitglied der Landesarbeitsgemeinschaft QueerGrün Niedersachsen und als Gründer (wir sind noch in der Gründungsphase) eines Arbeitskreises Diversity für den Landkreis Hildesheim sowie natürlich in meiner privaten Eigenschaft als trans Person habe ich den Bürgermeister angeschrieben und ihn gebeten, die Flagge an mindestens einem von zwei Terminen zu hissen, nämlich wenn der CSD in Hannover, unserer großen Nachbarstadt, läuft, und am 28. Juni (Stonewall).

Mir fällt auf, daß man in Hannover und vergleichbaren Großstädten alle Möglichkeiten hat, sich als Mitglied der LGBTQ+ Community zu vernetzen, hier im ländlichen Gebiet jedoch so gut wie gar nicht. Ich will das ändern, deshalb auch der Arbeitskreis. Ich will Sichtbarkeit schaffen und damit Normalisierung, und ich will, daß alle - alle! - Bürger*innen jeder noch so kleinen Kommune das Gefühl haben, dort, wo sie wohnen, sie selbst sein zu können. 

Ich wollte diese Flagge sehen, damit die Stadt Alfeld, die mit knapp 19.000 Einwohner*innen die größte meines Ortsverbands ist, deutlich und öffentlich signalisiert, sich ihrer LGBTQ+ Bevölkerung bewusst zu sein und diese in jeder Hinsicht willkommen zu heißen und hinter ihnen, hinter uns, zu stehen. Ich wollte, daß das jede*r sehen kann.

Und bäm.


Das war vor 10 Tagen, als in Hannover der CSD lief. Seht ihr mich winken, da oben im Türmchen neben dem Bürgermeister? :D 


Japp, sehr glücklich. Und stolz.

Der Juni ist pride month, auch wegen Stonewall. Und darüber, also über gay pride im weitesten Sinne, habe ich auch seit letztem Jahr viel nachgedacht. Bin ich stolz darauf, trans zu sein? Nein. Im Gegenteil. Hätte ich das irgendwann in meinem Leben abschalten können, hätte ich es getan. 

Ich glaube, der Punkt ist nicht, stolz darauf zu sein, was wir sind, sondern darauf, was wir mit dem, was wir sind, anfangen. Ich bin stolz, jetzt endlich den Mut gefunden zu haben, authentisch zu sein. Ich bin stolz, meine Zeit und Energie dafür aufzubringen, die Lebensbedingungen von LGBTQ+ Menschen in Deutschland zu verbessern. Das sind Entscheidungen, die ich treffen kann und treffen will auf Grundlage dessen, was ich bin, wofür ich nichts kann.

Worauf seid ihr stolz? Könnt ihr überhaupt stolz auf etwas sein oder habt ihr auch solche Probleme damit wie ich bisher? Falls die Antwort auf die letzte Frage "Ja" ist, wäre ich noch neugierig, ob ihr Frauen oder als Frauen erzogen worden seid, denn ich habe da einen Verdacht...

All the history of wars

I invent in my head



CSD-Saison 2021


Kommentare

Tricia Danby hat gesagt…
Ah, das mit dem Stolz sein ist so eine Sache. Ich weiß, dass ich manchmal damit nicht so im Reinen bin.
Ich war früher schon immer ziemlich selbstkritisch und hatte Minderwertigkeitskomplexe. Diese Unsicherheit verstecke ich aber meist ziemlich gut hinter Sprüchen und so ...

Ich bin stolz auf einiges was ich erreicht habe und ich weiß das auch (manchmal eher nicht). Aber ich habe mir auch sehr viel verwehrt, weil ich dachte, dass ich das oder das nicht kann.
Worte unbedacht geäußert haben mir weh getan, denn sie haben den Nerv getroffen in mir, der dafür gesorgt hat, dass ich Herzenswünsche gar nicht erst realisieren wollte, weil ich dachte nicht gut genug zu sein.
Seit einiger Zeit merke ich, dass da etwas in mir wächst und ich irgendwie mehr Ich würde und ich es einfach möchte. Du bist mir da tatsächlich eine Inspiration. Das wollte ich dir schon längst einmal gesagt haben. Ich bin so stolz auf dich und ja, ich bin auch stolz auf mich ...weil ich etwas wage und über meinen Schatten steige. Ich habe Angst ...aber ich möchte es und aus dem Grund gehe ich einfach weiter :)
Anonym hat gesagt…
Stolz darauf, dass ich meinem Vater nach 40 Jahren Duckmäusertum endlich ohne schlechtes Gewissen die Stirn bieten kann.
Stolz darauf, dass meine Mutter gelegentlich (endlich) auch Ratschläge von mir annimmt.

Aber du hast recht. Vor drei Jahren war das noch nicht möglich. Erst wärend der langen Therapiesitzungen habe ich erkannt, dass "alles richtig gemacht" in meinem Fall bedeutet, im Rückblick trotz aller Niederlagen nichts zu bereuen.

Und du darfst stolz auf dich sein. Denn jetzt bist du endlich innerlich wie äußerlich der Mensch, der du immer sein wolltest.
Musiksalon hat gesagt…
@Tricia: Danke. <3
Und genau so, wie du das beschreibst, hat es sich für mich auch angefühlt.

@Anonym: Ich glaube, das ist ein total wichtiger Gedanke, den du da hast: daß unser Selbstwert nicht von Erfolgen oder Niederlagen abhängen sollte, sondern daß eine Niederlage auch bedeuten kann, daß man sich geweigert hat, korrumpiert zu werden. Bei uns in Musikerkreisen ist das klassische Beispiel die Intendantencouch oder mit dem Professor zu schlafen, der das "anbietet" (= grabscht). Na klar hätte ich gern eine steilere Karriere hingelegt, aber in den Jahren, in denen das der Preis gewesen wäre, habe ich mich um alles in der Welt dagegen gewehrt, und darauf bin ich stolz - und immer noch der Meinung, auf eine so erlangte Karriere könnte ich nicht stolz sein.

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