Tee trinken

"Trinken Sie Tee", sagt Frau Kopfdoktor. Ich nicke. Ich trinke gerne Tee, vor allem Schwarztee. Aber etwas aus dem Zusammenhang gerissen kommt mir der Satz doch vor. Wir haben unser gesamtes erstes Treffen lang darüber gestritten, daß ich ihrer Meinung nach sofort für 2 Monate zu arbeiten aufhören sollte, da meine Konzentrationsprobleme, meine Angstzustände, meine Schlaflosigkeit bereits zu einem (glimpflichen) Autounfall geführt haben - während das meiner Meinung nach nicht so einfach geht. Schließlich habe ich Chöre und Schüler und Studenten und Verantwortung und einen Dickschädel.

Ich erkläre ihr, daß im Februar ja dann 2 Monate Semesterferien beginnen würden - dann wäre zumindest ein Chor weniger. Das müsse als Erholung reichen.
Sie sieht mich ungläubig an.
"Sie haben keine Reha gemacht?"
Ich schüttle den Kopf.
"Haben Sie während der Bestrahlung aufgehört zu arbeiten? Oder direkt danach?"
Ich schüttle den Kopf.
"Hatten Sie irgendein Beratungsangebot? Psychoonkologen? Einen Sommerurlaub?"
Ich schüttle und schüttle.
"Was würden Sie tun, wenn Sie beide Beine gebrochen hätten?"
- "Ich würde mich vermutlich chauffieren lassen..."
- "Nein, ich meine, stellen Sie sich vor, sie hätten eine wirklich schlimme Krankheit, dann müßte doch auch alles ohne Sie weitergehen!" Sie verdreht die Augen. "Was rede ich da?! Sie hatten doch Krebs, wie schlimm muß es denn Ihrer Meinung nach noch werden?"

Jetzt sehen wir uns zum zweiten Mal und ich erzähle ihr, daß ich nachgedacht habe, ihr zähneknirschend zustimmen mußte und nun bis Ende des Jahres von der Musikschule und bis Ende des Semesters von der Uni freigestellt bin. Den Ö-Chor mache ich noch bis zu den Weihnachtskonzerten, die gleich Anfang Dezember sind, dann ist auch hier 4 Wochen Pause. Vier Wochen ohne Termine, das konnte ich herausholen, und entgegen meinen Befürchtungen war das sogar sehr leicht. Der Chef in der Uni fand es sogar das Selbstverständlichste von der Welt, daß ich eine Auszeit brauche, und meinte "kümmern Sie sich um sich, wir kümmern uns um alles andere".
Und nun sitze ich hier und Frau Kopfdoktor sagt "Trinken Sie Tee". Es dauert eine geschlagene Minute, bis ich begreife, daß sie mir keine Ernährungsvorschläge macht, sondern Verhaltensvorschläge. "Trinken Sie Tee, schauen Sie aus dem Fenster und tun Sie sonst nichts - denn momentan ist das alles, was Sie können. Und es gibt auch nichts, was Sie sonst tun müssen."
Ich habe das mit dem aus-dem-Fenster-gucken noch nicht so richtig raus; mein allzeit arbeitender Verstand hechelt noch den ewigen Marathon, obwohl Körper und Seele längst am Seitenstreifen liegen. Aber ich entdecke wieder für mich die genußvolle Langsamkeit des Bücherlesens.
Ich habe vorsichtig angefangen mit einem Karl May Schinken und einem Wolfgang Hohlbein Jugendbuch - damit hoffe ich dem Verstand ein Bein zu stellen, und wenn er dann auch am Seitenstreifen liegt, können wir alle gemeinsam erstmal ausruhen.


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