Jahresrückblick
Es ist der letzte Tag im Jahr 2022 und damit Zeit für einen kleinen Jahresrückblick.
Aber bevor ich anfange, zunächst einmal das letzte SloMo-Video des Jahres für euch:
JANUAR
Ich habe meinen Posten als Sprecher des Ortsverbands Hildesheim Süd der Grünen abgegeben, da ich bereits entschieden hatte, im Laufe des Jahres aus Alfeld wegzuziehen. Ich hatte viel Freude mit dieser Arbeit und habe unglaublich viel über Menschen und Politik gelernt in den gut zwei Jahren, in denen ich sie machen durfte.
Der Unichor durfte das fünfte Semester in Folge nicht auftreten wegen Corona.
Der Endokrinologe erhöht ein weiteres Mal die Dosis meines Testosterons. In den nächsten Monaten wird aus dem zögerlichen Rutsch, den mein Stimmbruch im Jahr 2021 dargestellt hat, eine Art Gerölllawine.
FEBRUAR
Ich werde in einem der absurdesten Moves, die ich je erlebt habe, aus dem Queerchor Hannover entfernt, ohne mich auch nur von den Chormitgliedern verabschieden zu können. Das und die Tatsache, dass der Hund in Braunschweig nicht in den Universitätsgebäuden gestattet ist, ich dort also einen kurzen Arbeitsweg haben möchte, führt dazu, dass ich mir Wohnungen in Braunschweig ansehe. Viele Wohnungen.
Eine der ersten ist eine absolute Traumwohnung: etwas seltsam geschnitten im Erdgeschoss eines alten Bauernhauses mit Garten am Stadtrand, viel Grün drumherum. Ich bekomme sie nicht, weil laut Aussage der Maklerin "die Besitzer ein Problem mit meiner gleichgeschlechtlichen Ehe" haben. Dasselbe passiert mit einer weiteren Wohnung in Innenstadtnähe.
MÄRZ
Ich finde eine Wohnung, sieben Fußminuten von meinem Probenraum in der Uni entfernt. Der Vermieter ist sehr nett, ebenso wie sämtliche Nachbar*innen und Zeusis neue beste Freundin, die Hündin von nebenan.
Man darf wieder singen! Ich werde als Pianist für ein Carmina Burana Projekt Nähe Berlin gebucht und mache das erste Probenwochenende alleine, weil der Dirigent krank wird. Da Corona-Schutzmaßnahmen von Chorsingenden sehr unterschiedlich bewertet und behandelt werden, bin ich es, der die ganze Zeit eine Maske auf der Nase hat.
Ich werde gefragt, ob ich eine kleine Rolle in einem Hörspiel übernehmen möchte: die eines trans Manns, der auf einer Party dringend aufs Klo muß. Ich übernehme das mit größter Begeisterung, insbesondere für das Lied mit dem Titel "Where can I pee", das ich singen muss. Ich bin Tenor. (Das Hörspiel kommt Anfang 2023 raus, hat eine nichtbinäre Hauptperson, ist ziemlich witzig und wird kostenlos zugänglich sein!)
APRIL
Ich ziehe um. Die erst sehr kalte neue Wohnung und vermutlich der Stress in meinem Kopf sorgen für eine fast vier Wochen andauernde Blasenentzündung, und ich hasse jeden einzelnen Tag davon. Der Umzug bedeutet auch Abschied von der tollen Traumatherapeutin und Suche nach einer neuen Psychologin in Braunschweig - ich bin heute immer noch nicht wieder in Behandlung.
An Karfreitag sehe ich die Matthäuspassion im Dom und bin komplett hingerissen von Elke Lindemann. Am Ostersamstag kommt mein Bruder für einige Tage zu Besuch, was absolute quality time ist.
Bei der Anmeldung im Bürgeramt sind ungefähr 50 Menschen vor mir im Warteraum, so daß ich mich auf den Boden setze (alle Stühle voll), mein Kindle raushole und lese. Als ich wieder auftauche, sind alle weg und die Mitarbeitenden haben Mittagspause. Zu meinem Glück gibt es einen sehr netten Mann, der fünf Minuten seiner Mittagspause für mich opfert - in seinem Büro stehen ein Groot-Blumentöpfchen und eine Duftlampe, und überhaupt ist das die angenehmste Amtsbegegnung ever.
Bei den Braunschweiger Grünen kann ich mich so gut wie gar nicht einbringen, weil viele ihrer Termine an Wochentagen abends stattfinden, wo ich arbeite, aber die AG Gender Intersektional passt in meinen Terminkalender, sodass ich mal schnuppern gehe. Eine gute Entscheidung!
Der Pianist des Ö-Chor teilt uns nach Ostern mit, dass er gerade auf Teneriffa sei und nicht plane, zurückzukommen. Der Ö-Chor verschiebt sein Jubiläumskonzert vom Juni in den Dezember und macht sich auf die Suche nach neuer Begleitung.
MAI
Das Wiedersingendürfen eskaliert so richtig. Ich habe jedes Wochenende ein Probenwochenende, der arme Hund fährt unglaublich viel Auto und liegt in Chorproben herum (und beteiligt sich am Einsingen).
Der Ö-Chor findet eine neue Pianistin, die auch geteilte Proben machen kann!
Der Endokrinologe fragt mich nach meinem Bartwuchs und ich sage Lol. Er fragt mich auch nach meiner Stimme und schreibt mir zehn Stunden Logopädie auf.
Ich finde keine*n Logopäd*in, die/der sich sowohl mit Sprech- und Gesangsstimme als auch mit der Besonderheit der trans Stimme auskennt (und gerade nicht in Babypause ist).
JUNI
Ich treffe mich auf dem CSD in Hannover zum ersten Mal live mit Mitgliedern der LAG Queergrün Niedersachsen, der ich ja erst seit kurz nach Beginn der Pandemie angehöre. Wahnsinn. Es ist eine superschöne Prideparade, und es ist wirklich so ein Unterschied, mit Menschen mal nicht über Zoom zu reden, sondern auf der Straße zu tanzen.
Ich mache das zweite Probenwochenende des Carmina Burana Projekts auch alleine, weil der Dirigent krank wird. Meine Gastfamilie ist unglaublich nett und hat eine Tochter, die ebenfalls Berufsmusikerin ist sowie zwei Hunde, die sich mit Zeus großartig verstehen, und es ist einfach rundherum schön.
Die goldene Hochzeit meiner Eltern fällt aus, da meine Mutter einen Schlaganfall erleidet. Ich fahre mit dem Hund nach Brandenburg und sehe sie in der Klinik schon wieder munter und auf den Beinen, da sie gottseidank schnell ihre eigenen Symptome erkannt und sich Hilfe geholt hatte.
Ich finde einen Logopäden in Berlin, der Zoomsitzungen anbietet und ein eigenes Konzept zur Arbeit mit trans Stimmen entwickelt hat. Ich komme auf die Warteliste.
JULI
Der Unichor darf das erste Mal seit Januar 2020 wieder auftreten! Unser Programm heißt Terra X und verbindet Chorwerke und Pressetexte zum Klimawandel. Wir bekommen minutenlange Standing Ovations und eine Fülle von begeisterten, gerührten Rückmeldungen wie noch nie zuvor.
Auf Instagram schreibt mich jemand an, er sei im Vorstand eines Chores, der einen neuen Dirigenten suche, und ich sei ihm empfohlen worden, ob ich nicht vordirigieren wolle? Es sei ein philharmonischer Chor mit Schwerpunktrepertoire im Bereich Chorsinfonik. Mir schweben kleine Herzchen aus den Pupillen - endlich wieder mit Orchester arbeiten? Ich dirigiere vor.
AUGUST
Mein Bruder, mein Hund und ich machen einen Roadtrip ins 2000 km entfernte Mala. Nichts auf dieser Reise verläuft wie geplant, aber das ist vielleicht genau der Reiz eines Roadtrips - obwohl im Zelt an einer Autobahnraststätte schlafen nicht war, wie wir uns unsere erste Nacht gedacht hatten. :D
(Da ich über die Reise noch nicht gebloggt habe, hier ein kleiner Foto-Exkurs)
Wir sind mit der Fähre gefahren, was für den Hund so mittel war. Er arrangiert sich ja mit mehr oder weniger allem, solange ich da bin, aber es war sehr voll und etwas laut.
Mala ist ein hübsch gelegenes kleines Städtchen zwischen Bergen und Seen. Wir sind fast täglich auf den Ski-Berg gegangen, weil die Aussicht einfach so schön war.
Und der von uns besuchte und sehr vermisste Freund und sein Mann haben uns richtig viele von Nordschwedens kostbaren Naturschönheiten gezeigt:
Das Carmina Burana Projekt hatte seine Konzerte, ich hatte den Luxus derselben tollen Gastfamilie wie vorher, ein Teil meiner Familie hat es sich angehört, Zeus durfte im Publikum liegen, alles war schön.
Der philharmonische Chor sine nomine meldet sich zurück und möchte mich als neuen Dirigenten haben. Ihr Probentag liegt genau wie der vom Ö-Chor auf Montag; beide Chöre können nicht verschieben, aber beide Chöre sind kompromissbereit bis Ende des Jahres mit mir im schnellen Wechsel und extra Probentagen, damit der eine sein Jubiläumskonzert machen kann und der andere keine fünfmonatige Pause machen muss.
SEPTEMBER
Am zweiten September war das erste Treffen der Interessierten für den queeren Chor. Auf Anhieb haben sich über fünfzig Personen in den Emailverteiler eingetragen. Mitte September haben wir begonnen zu proben, es kommen seitdem regelmäßig ca 30 Leute.
Der Unichor, der inzwischen einen Förderverein gegründet hat, kann mich jetzt für Proben zwischen den eigentlichen Semestern bezahlen, also fangen wir auch schon zu proben an. Ich wälze alle Einsingen auf unseren Stimmbildner ab und singe so wenig wie möglich vor. Ich bin Bariton.
Der Endokrinologe fragt mich nach meinem Bartwuchs. Ich seufze.
OKTOBER
Ich bin jetzt ein halbes Jahr in Braunschweig und fand bisher alles toll: die Leute, die in aller Herrgottsfrühe singend an meinem Fenster vorbeiradeln, die Radfahrer*innen, die sich immer bedanken, wenn ich den Hund aus dem Weg nehme, die Nachbarschaft mit der leicht crazy Gassigehtruppe, der ich jetzt irgendwie angehöre. Die Uni startet wieder mit einem unnormal gewordenen Gefühl von Normalität. Ich habe Studierende, die wieder einmal völlig anders sind als alle ihre Vorgänger*innen und der Unterricht macht tierisch Spaß.
Logopädie fängt an!
NOVEMBER
Freie Tage wurden im Herbst abgeschafft, ich bin mittlerweile froh, wenn ich noch freie Vormittage habe. Ich spiele in einem sehr schönen Schütz-Projekt Continuo. Nach dem zweiten Konzert fragt mich jemand aus dem Publikum, ob ich den Hund (der immer neben mir auf der Bühne liegt und schläft) sediert hätte. Sie unterschätzen die Macht von Schlummi ebenso wie die jahrelange Abhärtung gegen alle Arten von Musik, die dieser beste aller Hunde genossen hat.
Der Ö-Chor und ich machen unsere beiden Jubiläums- und damit auch Abschiedskonzerte.
DEZEMBER
Ich bin nach knapp 20 Jahren das erste Mal wieder in Wernigerode und prompt ist es ein verschneites Winterwunderland. Der Unichor hat ein sehr schönes Probenwochenende hier. Mit dem sine nomine machen wir einen Weihnachtsmarktflashmob, der extrem viel Spaß macht, aber leider dazu führt, dass ich das erste Mal an Corona erkranke. Deshalb verbringe ich meinen Geburtstag und Weihnachten zuhause und mit einer Maske im Gesicht, wenn ich mit dem Hund gehe. Unheimlich viele nette Menschen bieten mir Hilfe in Form von Einkäufen an.
Die Queermonics haben ihren ersten Auftritt im Rahmen des Gottesdienstes zum vierten Advent. Da ich das kack Virus habe, kann ich nicht für sie da sein, was mich ziemlich fertig macht, aber dieser Chor ist nichts so sehr wie willensstark und resilient und zieht es einfach ohne mich durch. Ich bekomme lauter Nachrichten von Bekannten aus dem Publikum, die hingerissen sind, und ein paar Videos, die mich sehr beeindrucken, und bin etwas getröstet.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag werde ich zu einem ebenfalls C-positiven Paar zum Abendessen eingeladen, "damit wir alle nicht so alleine sind", was in ihrem Fall mit drei Pflegekindern, einem Hund und mehreren Meerschweinchen ohnehin eine Seltenheit sein dürfte, und das war ein unglaublich lustiger, schöner Abend.
30.12.: Ich bin wieder freigetestet und mache meinen ersten Thekendienst im Onkel Emma. Da open end ist, nehme ich den Hund mit. Er arrangiert sich schnell - auf den Gästen. Vier Personen wollen ihn direkt mitnehmen, einer erklärt mir leicht lallend, er sei auch in der Puppy-Play-Gruppe, und ob ich auch so einen schönen buschigen Schwanz hätte wie mein Hund. Ich nehme ihm das Shotglas weg.
31. Dezember: Die Uni überweist das Geld fürs letzte Sommersemester. Yeah.
ZUSAMMENFASSUNG
Ich habe einen Haufen spannender, sympathischer Menschen kennengelernt. Ich durfte wieder Musik machen! Ich hatte und habe die Gelegenheit, mir einen eigenen sozialen Kreis zu erarbeiten, und das ist ein gutes Gefühl.
Ich bin in einigen queeren Bereichen engagiert - natürlich politisch immer noch als Sprecher der LAG Queergrün, aber ich bin auch nach wie vor Teil der AG Gender, die ab und an ihren Treffpunkt auf einen Tag legt, an dem ich auch kann, der Queer Teachers Braunschweig und einer kleinen, privaten, queeren Gruppe von Sonntagsspaziergänger*innen.
Was kommt als nächstes?
Ich plane, ein LGBTQ-Mitarbeitendennetzwerk für die TU Braunschweig aufzubauen, denn es kann eigentlich nicht sein, dass wir in einem derartig großen Betrieb alle für uns alleine kämpfen.
Ich werde versuchen, Chorleitende in Braunschweig ein bißchen mehr untereinander zu vernetzen, damit keine allzu blöden Situationen mit Konzertüberschneidungen entstehen. Außerdem habe ich jemanden kennengelernt, der schon lange mal eine Lange Nacht der Chöre in Braunschweig veranstalten will, und der mich ins Boot holen wollte - na aber hallo! Was für eine tolle Idee.
Mit den Queermonics arbeite ich langsam und gründlich auf das Sommerlochfestival hin (CSD), der sine nomine wird ein Verdi-Requiem machen und der Unichor hat derzeit noch verschiedene Optionen. Gleichzeitig beginne ich auf Wunsch des Kirchenkreises Hildesheim ab nächsten Mittwoch eine Kantorei im Ambergau aufzubauen. Ich kann mich also über Langeweile nicht beschweren.
Vom Persönlichen mal abgesehen hat sich das Jahr 2022 ungefähr so angefühlt
und ich hoffe wirklich, das nächste wird besser, und mit besser meine ich friedlich.
Ich wünsche euch ein gutes, gesundes neues Jahr!
Kommentare